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Rezension zu
Die langen Abende

Olive, again

Von: LiteraturReich
25.05.2020

„Olive, again“ – da ist sie wieder, Olive Kitteridge, die Protagonistin des 2009 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichneten Romans von Elizabeth Strout, „Mit Blick aufs Meer“, der nun mit „Die langen Abende“ einen würdigen Nachfolger erhalten hat. Lange haben die vielen Fans von Olive Kitteridge auf diesen Nachfolgeband gewartet. Eigentlich verwunderlich, dass diese Frau überhaupt so viele Fans hat. Ruppig, barsch und sehr direkt ist Olive. Resolut und entschlossen ging die ehemalige Mathematiklehrerin schon in „Mit Blick aufs Meer“ durch das kleine fiktive Städtchen Crosby an der Küste Maines und schaffte sich dadurch nicht nur Freunde. Aber das ist eben nur eine Seite von ihr. Auf der anderen Seite ist sie sehr offen, dadurch auch sehr empathisch und, ja, patent. Sie hat das Herz am richtigen Fleck. Nun sind gut zehn Jahre ins Land gegangen und auch Olive, die zu Beginn von „Die langen Abende“ 73 Jahre alt und mittlerweile Witwe ist, geht nicht mehr ganz so brachial ihren Weg. In ihrer Einsamkeit bereut sie, manchmal doch sehr hartherzig zu ihrem verstorbenen Mann Henry gewesen zu sein. Und auch im Verhältnis zu ihrem Sohn Christopher liegt einiges im Argen. Seine neue Frau und deren in die Ehe mitgebrachten Kinder findet Olive unausstehlich. Olives Problem, wenn man es so nennen will, ist, dass sie zu genau auf die Menschen und ihr Tun schaut. Und zu wenig nachsichtig. So nimmt sie in der zweiten der dreizehn Geschichten, aus denen der Episodenroman besteht, an einer Babyparty teil. Und kann zum großen Vergnügen der Leser*innen kein gutes Haar daran lassen. Andererseits ist sie die einzige, die bemerkt, dass es einer der hochschwangeren Teilnehmerinnen nicht gut geht. Aus der Fahrt zum Krankenhaus wird dann nichts, weil das Baby schon auf dem Rücksitz von Olives Wagen zu Welt kommt. Auch auf Jack Kennison, nun 74 Jahre alt und seit kurzem Witwer, der in der Eröffnungsgeschichte mit seinem Auto in eine Polizeikontrolle gerät, schaut Olive unerbittlich. Auf seinen ausladenden Bauch genauso wie auf seine Intoleranz seiner lesbischen Tochter gegenüber. Und doch kommt es zwischen den beiden gealterten Protagonisten von „Mit Blick aufs Meer“ zu einer Annäherung, die schließlich sogar zu einer Ehe führt, obwohl beide noch ihren verstorbenen Ehepartnern nachtrauern. Aber man rauft sich zusammen – und es klappt. Olive und Jack sind nur zwei, wenn auch die zentralen Protagonisten der geschickt verwobenen Geschichten. Besonders Olive taucht in fast jeder Episode auf. Mal als Zentrum, manchmal läuft sie nur am Rande durchs Bild, trifft eine ihrer ehemaligen Schülerinnen. Dadurch werden Innen- und Außenwahrnehmung der Personen immer wieder gegeneinander gesetzt, schaut man auf sie immer wieder aus anderen Blickwinkeln. Manche der anderen Figuren erscheinen nur ein einziges Mal, wie die Schülerin Kayley, die nach der Schule bei ihrer Lehrerin putzen muss, um der Familie ein wenig Extrageld zu verschaffen. Andere sind in einer Geschichte der Mittelpunkt und nur Randfiguren in anderen. Wie Fergus McPherson, der in einer frühen Geschichte als merkwürdiger Kauz, der im Kilt durch Crosby läuft, erwähnt wird, in der Episode „Die letzte Bürgerkriegsparade“ aber Hauptprotagonist ist und in einer der letzten dann nur noch als verstorbener Mann von Ethel erwähnt wird. Mit Ethel verband ihn eine zweiundvierzig Jahre andauernde Ehe, in der die beiden seit fünfunddreißig Jahren nicht mehr miteinander sprachen. Die Kommunikation verläuft bei ihnen allein über den Hund, für jeden der beiden sind bestimmte Räume im Haus mit gelbem Klebeband abgetrennt, damit man sich nicht in die Quere kommt. Nicht gelingende Beziehungen und Entfremdungen in der Familie sind nur zwei Aspekte der vielfältigen Dramen und Unglücke, die in den Geschichten präsent sind. Tod, Krankheit, die unzähligen Beschwernisse des Alters sind allgegenwärtig. Da Elizabeth Strout sie in „Die langen Abende“ so lakonisch und unsentimental wie beiläufig schildert, wirken die Geschichten aber niemals bedrückend. Sie sind anrührend, aber nicht rührselig, oft mit Komik und Heiterkeit durchsetzt. Olive Kitteridge und die meisten anderen Protagonisten sind einfach nicht larmoyant. Sie wissen um die Abgründe des Lebens, und haben dennoch einen Alltag zu bewältigen. „Cindy Coobs, es gibt nicht einen gottverdammten Menschen auf dieser Welt, der nicht ein, zwei schlimme Erinnerungen mit sich durchs Leben schleppt.“ erinnert Olive eine ehemalige, an Krebs erkrankte Schülerin. „Irgendwie ist die Welt doch nicht zum Aushalten. Ich weiß, sagte Anita locker. sie nickte. O ja, ich weiß. Und sie setzte hinzu: Das war aber schon immer so, fürchte ich.“ Die Autorin begegnet all ihren Figuren und ihren kleinen und großen Leiden immer mit großem Respekt. „Das sind die Schmerzen der Seele. Und ihm schien, dass sie niemals leichtfertig abgetan werden durfte, die Einsamkeit am Grund eines jeden Lebens, und dass die Entscheidungen, die die Menschen trafen, um dieser klaffenden Schwärze zu entgehen, Entscheidungen waren, denen Respekt gebührte.“ Auch wunderschön poetische Naturbeschreibungen gelingen der Autorin. „Diese langen, langen Abende; sie waren so lang und schön, es konnte einen verrückt machen. Die Wiese lag schon großteils im Dämmer, die Bäume dahinter schienen wie Flecken aus schwarzer Leinwand, aber der Himmel schickte noch immer einzelne Strahlen herab, die sanft das Gras am hinteren Wiesenrand strähnten.“ Die Geschichten begleiten die Bewohner Crosbys, Olive und Jack über mehr als zehn Jahre, chronologisch fortschreitend, aber mit unregelmäßigen Zeitsprüngen. Einen eigentlichen, durchgehenden Plot gibt es nicht, aber einzelne Erzählfäden werden immer wieder aufgenommen, so wie auch das Erzählpersonal immer wieder auftaucht. Elizabeth Strout verfolgt sie in „Die langen Abende“ wie in langsamen Kameraschwenks. „Short cuts“ lässt grüßen. Die erfolgreiche HBO-Miniserie „Olive Kitteridge“ könnte mit ihnen fortgeführt werden. Gesellschaftliche, soziale, politische Gegebenheiten sind durchaus präsent, aber immer nur in homöopathischen Dosen. Man spürt aber durchaus die zunehmende soziale Kälte und wirtschaftliche Not der Menschen, auch wenn die Mehrzahl der Protagonisten dem typischen weißen Mittelstand des Bundesstaats Maine entstammt und sich im Leben ganz gut eingerichtet hat. Olives (und wohl auch Strouts) Meinung zum aktuellen Staatsoberhaupt taucht nur einmal auf, als sie den „Aufkleber mit dem Namen dieses orangehaarigen Kotzbrockens, der jetzt Präsident war“ am Auto ihrer Pflegerin entdeckt. Was ihr beinahe den zweiten Herzinfarkt beschert hätte. Am Ende ist Olive Kitteridge weit über achtzig und lebt in dem von ihr oft so geschmähten Seniorenheim Maple Tree Apartments. Auf einer Schreibmaschine lernt sie, ihre Gedanken und Erinnerungen festzuhalten. Und gewinnt sogar eine neue Freundin. Das Alter ist nicht schön, da macht Elizabeth Strout in „Die langen Abende“ ihren Leser*innen nichts vor. Sie schildert es realistisch, bitter, lakonisch. Aber immer ist auch ein Neuanfang möglich, es geht weiter. Und manchmal kann man sogar die Einsamkeit überwinden. Was für ein wunderbares, anrührendes Buch ist Elizabeth Strout mit „Die langen Abende“ wieder gelungen. Scharfsinnig, komisch, empathisch. Und damit bereits jetzt eines der Lesehighlights des Jahres.

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