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Rezension zu
Nebenan

Ein Buch wie warme Milch mit Honig

Von: Fraedherike
20.05.2022

"Wie gut musste man einen Menschen kennen, um etwas zu bemerken, um sicher sein zu können, dass etwas nicht stimmte? Und wie konnte man sicher voneinander unterscheiden, was Vermutungen und was Vorurteile waren? Wie nah musste man einem Menschen sein, um aus einem Verdacht heraus eine Frage stellen zu können, ohne neugierig oder aufdringlich zu wirken?" (S. 74) Vor kurzem erst haben Julia und ihr Freund Chris der Großstadt den Rücken gekehrt. Neuer Start, neues Glück; sie waren die Hektik und die Geschwindigkeit leid, suchten Entschleunigung und Ruhe und fanden sie in dem kleinen Ort am Nord-Ostsee-Kanal. Was nun noch fehlt: ein Kind. Nichts wünscht sich Julia mehr als werdende Mutter, eine Mutter im Werden genannt zu werden, diesen zart-pudrigen Geruch einzuatmen und die Wärme eines kleinen Wesens zu spüren. Aber ihre Gedanken werden zunehmend mit etwas Anderem eingenommen: Von einem Tag auf den anderen verschwinden ihre Nachbarn plötzlich. Der kleine Junge auf seinem Laufrad, die schwangere Mutter, der Vater, der ihnen penetrant Wein zu verkaufen versucht, "Freundschaftsangebot". Der Briefkasten quillt über, und kein Wort des Abschieds. Doch warum nur? Auch Astrid, Anfang sechzig, wird zunehmend von Sorgen geplagt: Seit Jahrzehnten führt sie erfolgreich eine Praxis mit festem Patientenstamm, bis sie eines Tages mysteriöse Briefe erhält, in denen ihr Ansehen als Ärztin beschmutzt, an ihren Fähigkeiten gezweifelt wird. Damit nicht genug, scheint es ihrer Tante mit dem Alter immer schlechter zu gehen, sie scheint verwirrt, beinahe dement - und ist doch der letzte familiäre Anker, den sie hat. Und dann ist da der Junge, der einen Zettel an die Tür des leerstehenden Hauses klemmt. "Es sind die Kleinigkeiten, es sind fast immer die Kleinigkeiten, an denen das Traurige sich fest macht." (S. 20) Dieses Buch fühlt sich an wie Heimkommen, wohlig-warm und unglaublich geborgen: "Nebenan" von Kristine Bilkau. Zärtlich und mit feinem Blick für das, was in Julia und Astrid passiert, so unterschiedlich und im Grunde doch so nah, verwebt sie die Schicksale der beiden Frauen nur sanft touchierend miteinander, lässt abwechselnd einen Blick in ihrer jeweiligen Leben zu. Sie beeinflussen einander nicht, kennen sich nur flüchtig, aber sind doch Teil derselben Umgebung, einer sozialen Gemeinschaft, deren Miteinander von geopolitischen und Gentrifizierungsmaßnahmen beeinflusst wird. Auch auf dem Land wird alles teurer, da ist es rentabler, leerstehende Gebäude derart zu belassen als zu sanieren. Kommt doch eh keiner von den jungen Leuten hier raus. Trotz ihres Altersunterschieds von fast dreißig Jahren sind es doch ähnliche Probleme, die sie beide beschäftigen: Sie sehnen sich nach Geborgenheit, nach Nähe, diesem anderen Menschen, den sie verloren haben oder sehnsüchtig erwarten, und doch bleiben sie auf der Stelle stehen. Ob aus Angst vor der Wahrheit, warum Marli Astrid nach all den Jahren, wo sie in den kleinen Ort zurückkehrte, nicht wieder in ihr Leben lässt; oder als Laune des Schicksals, dass es einfach nicht klappt, sie einfach nicht schwanger wird. Was resultiert, ist Ungewissheit, dieses Zwicken in der Brust. Und Frustration, all die Versuche, Marli unbemerkt näher zu kommen, ein Kind zu bekommen; die Distanz, die die alte Freundin aufbaut, die Julia von ihrem Glück trennt; beide gehen ans Äußerste, stark, vulnerabel, menschlich. Und müssen sich in der Gesellschaft doch immer wieder als Frau behaupten. Trotz all der ehrlichen Emotionen, der Verzweiflung und der Dringlichkeit, dem Verschwinden der Nachbarsfamilie auf die Spur zu kommen, ist es diese Ruhe, die den Roman so besonders macht. Sie macht all die harten Themen, die die Autorin behandelt, irgendwie erträglicher, denn es sind Probleme, die alltäglich sind: häusliche Gewalt, Fehlgeburt, Umweltverschmutzung. Gerade im Begriff, die Tränen wegzublinzeln, legen sich die Worte wie eine tröstende Hand auf mein Herz, beruhigen es. Sie tragen den Geruch salziger Luft, einer kühlen Brise heran, streuen Sand unter meine Füße und wirken entspannend wie eine warme Milch mit Honig. Danke für diese Geschichte, @kristinebilkau.

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