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Rezension zu
Die Arbeiter

Ambivalentes Wechselspiel

Von: Thomas Lawall
31.05.2024

So einfach wie die Covergestaltung eröffnet sich dieser Roman. Die ersten Worte des Prologs weisen die Richtung. Klar, deutlich und ohne jeden Schleichweg. Die gut zweieinhalb Seiten gestalten sich formal schlicht, aber ungeheuer präzise. Eine perfekte Inhaltsangabe des gesamten Buches auf den Punkt gebracht. Gleichzeitig ist er ein Magnet in geschickter Verkleidung, der Leserinnen und Leser sofort fesselt und so schnell nicht mehr loslässt. Es ist nicht nur die prompt entstandene Neugier, sondern das plötzliche Aufflackern eigener Erinnerungen. Da möchte man doch schnell weiterlesen, um vielleicht weitere Parallelen zu entdecken. Martin(us) hat sein Ziel erreicht. Endstation Oostende. "Der Herkunft entgegen." Wobei die Familie doch eher aus dem sauerländischen Plettenberg stammt. Egal, jedenfalls passt das miserable Wetter. Spätestens am menschenleeren Strand kehren die Erinnerungen an seine Schwester Uta mit Macht zurück. Ein Treffen ist geplant und kommt auch zustande. Per Handynachricht. Zwanzig Jahre haben sie nicht mehr miteinander gesprochen, und nun treffen sie sich in einem Lokal in Belgien. Es ist ein kurzes Gespräch, mehr ein vorsichtiges Abtasten. Am nächsten Tag sehen sie sich wieder zu einem Spaziergang. Wieder bleibt die Unterhaltung oberflächlich und nicht von Dauer. Eine kurze Umarmung gibt es immerhin. Martin ist verunsichert und unzufrieden, aber Uta meint, sie hätten sich "doch gut unterhalten". Diese seltsam unwirklich wirkende Begegnung lässt Fragen offen, die allerdings später auf eine so absolut nicht erwartete Weise beantwortet werden. Allein dieser literarische Kunstgriff rechtfertigt den Kauf dieses Buches! Martin Becker erzählt, per Autofiktion, die Geschichte einer Arbeiterfamilie aus dem Ruhrgebiet. Es ist seine eigene Familie. Sein Vater, ein Bergmann, und seine Mutter, eine Schneiderin, lebten, um zu arbeiten. Etwas anderes gab es nicht, denn das schlichte Überleben stand auf der Tagesordnung. Zum Glück gab es Ratenkredite, das Versprechen der Lottofee und immerhin ein Reihenhäuschen. "Ein an Ratenvereinbarungen geknüpfter Wohlstand." Aufgewachsen im sauerländischen Plettenberg weiß der Autor sehr genau, was er da schreibt. Die Verhältnisse zu kennen hört sich anders an als Fiktion. Der Alltag in einem sogenannten bildungsfernen Milieu ist nicht unbedingt sehr abwechslungsreich und doch sieht er heute nicht alles grau in grau, wenn er den einen oder anderen wehmütigen Blick zurückwirft. "Die Arbeiter" ist aber keinesfalls ein glorifizierter Rückblick in "die gute alte Zeit". Eher ein leidenschaftliches Aufbegehren gegen das Vergessen von Menschen und einer Zeit, die es nicht mehr gibt. Martin Becker reist von einer Zeitebene in die andere und wieder zurück. Streift die Kindertage seiner Mutter, kehrt in die familiäre Situation seiner Gegenwart zurück, und findet sich als Kind in der Obhut seiner Eltern wieder. Das ambivalente Wechselspiel zeigt eindrucksvoll die mit der Vergangenheit untrennbar verbundene Gegenwart, ein Hin und Her von Ursache und Wirkung, verwebt wie ein verblassender Teppich, aber dennoch stabil wie eine vermeintlich baufällige Achterbahn, die zwischen den Zeiten und mitten durch sie hindurch ihren Weg in immer neue Richtungen lenkt. Mehr Ambivalenz ist fast nicht möglich. Und ansteckend ist sie. Das Erstaunliche ist, wie schon gesagt, dass man sich plötzlich, fast automatisch, an die eine oder andere Episode aus der eigenen Kindheit erinnert. Auch an vermeintliche Nebensächlichkeiten wie Gerüche, Geräusche und den Geschmack der Vergangenheit. „Aber man will ja immer erst dann nach Hause, wenn es nicht mehr geht.“ Wirklich zurück möchte man nicht, dorthin, wo alles gesagt war und doch nichts, dorthin, wo man stets "die Kurve raus aus dem Eigentlichen" genommen hatte, aber die Fundamente, auf denen man sich die Zukunft gebaut hat, zu vergessen, ist ebenfalls nicht möglich. Die ganzen "Weißtdunochs" im Kopf verstummen nie.

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